Vetternwirtschaft
- winfried-weber
- 3 days ago
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Meritokratie oder Nepotismus?
Modifizierter Auszug aus
Winfried W. Weber: Die Purpose-Wirtschaft. Management als Balance zwischen Gewinn und Gemeinwohl, 2024, eBook (Amazon Kindle, http://tiny.cc/9eznzz )
Zählen in einer Gesellschaft eher Leistung oder eher gute Beziehungen? Welche Wendung nimmt die Leistungsgesellschaft möglicherweise, wie verändert sie sich im Wissenszeitalter und im Zeitalter illiberaler Demokratien und despotischer Regierungsformen?
Hong Xiuquan fiel zwischen 1827 und 1843 viermal durch die Beamtenprüfung, ging in Opposition zum zerrütteten und korrupten chinesischen Gesellschaftssystem des 19. Jahrhunderts und sammelte nach und nach mehrere Tausend Anhänger um sich, die sich gegen das etablierte System auflehnten. Die Revolte mündete im Taiping-Aufstand (1851-1864) und in einen Bürgerkrieg, der 20 bis 30 Millionen Menschen das Leben kostete. Die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, ein von der Polizei schikanierter Händler in Tunesien, war der Funke, der einen Flächenbrand in der arabischen Welt entzündete und der als der Auslöser der Revolten des Arabischen Frühlings gilt.
Wenn sich innerhalb einer Generation die Bevölkerungszahl in Ländern wie Tunesien, Marokko, Ägypten fast verdoppelte, in Libyen fast verdreifachte und junge, qualifizierte Menschen keine Zukunftsperspektiven sehen, entsteht eine Gemengelage, die Gunnar Heinsohn als das demografische Konfliktpotenzial bezeichnete (Heinsohn 2003). Der youth bulge, der hohe Anteil an Jugendlichen in einer Gesellschaft wird in solchen Ländern zum Hauptgrund für politische Instabilität, Unruhen, Terror, Krieg und Aufstände. Gerade ein hoher Anteil von frustrierten jungen Männern lasse in vielen Gesellschaften die Gefahr von gewalttätigen Rebellionen steigen (ebd.).
Vormoderne Gesellschaften waren so organisiert, dass über Verwandtschaft, Beziehungen und Korruption der Status und die privilegierten Positionen einer Minderheit zufielen und nur durch eine radikale Revolte verändert werden konnten. Mit dem Aufruf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit übernahmen die französischen Revolutionäre die Macht und sorgten fortan dafür, dass die Aristokratie die Machtpositionen nicht mehr unter sich aufteilten konnte. Die von Soziologen beschriebene stratifizierte Gesellschaft, eine vormoderne Gesellschaft, in der jeder qua Geburt seinen Stand zugewiesen bekam, wurde abgelöst von einer darauffolgenden Industriegesellschaft mit neuen Organisationsformen und einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft, in der die Chancen nach Talenten und Leistungsbereitschaft neu ausdifferenziert werden sollten. Während in der stratifizierten Gesellschaft noch wichtige von unwichtigen Tätigkeiten unterschieden wurden und Hierarchien etwa beim Adel noch göttlich begründet waren, sind in der modernen Gesellschaft Hierarchien nicht mehr aus Funktionen ableitbar. Adelige Familienzugehörigkeit, Clandespotie, autokratische politische Systeme sollten sich nach und nach auflösen und Gerechtigkeit und Chancengleichheit in eine Leistungsgesellschaft einführen. Heute kann man so weit gehen, dass mit dem Prinzip funktionaler Differenzierung, so Niklas Luhmann, nichts mehr dagegen spreche, dass Privilegien sich auflösten, dass „auch Nobelpreisträger ihre Schuhe selbst putzen müssen“ (Luhmann 1977). Schon im China des 17. Jahrhunderts wurde ein nationales Verfahren entwickelt, bei dem sich 2,5 Millionen Schulabsolventen um einen der begehrten Beamtenstellen des Kaisers bewerben konnten, aus dem dann mit einer Chance von eins zu sechstausend Kandidaten ausgesiebt wurden, wenn deren Leistung stimmte.
Mit einer „Aristocracy of Talent“ (Wooldridge 2021) und dem Leistungsprinzip vollzog sich eine gesellschaftliche Revolution. Ebenso wie politische Reformen oder Revolutionen, rechtsstaatliche Reformen oder eine Umverteilung des aristokratischen oder kirchlichen Grundbesitzes, zählt das Leistungsprinzip zu einer der maßgeblichen Neuerungen einer modernen Gesellschaft.
„Wenn wir uns produktive Länder anschauen, deren Wohlstand zunimmt und die wirtschaftlich dynamisch sind, liegt ihr wichtigster Vorteil in der Förderung und Weiterentwicklung des Leistungsprinzips, des Zulassens von Wettbewerb und der Verfolgung der Korruption. Vergleichen wir zum Beispiel Singapur mit Sri Lanka, zwei Länder in denen 1960 etwa ähnliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen herrschten, Sri Lanka hatte die Nase sogar vorn. Singapur aber setzte konsequent auf das Leistungsprinzip, ist vorwärts geschossen und entwickelte eine viel produktivere Gesellschaft.“ (vgl. Wooldridge 2022)
Während in vielen westlichen Ländern immer mehr Bildungsinstitutionen ihre Fähigkeiten verloren, Talente zu fördern, verstärkten viele ostasiatische Länder ihre Anstrengungen, das Leistungsprinzip in der Bildung und in Organisationen konsequent durchzusetzen (auch wenn gerade in China mit zum Beispiel den red princelings der kommunistischen Partei die Vetternwirtschaft und Klüngelei fortsetzten).
Gleichwohl ist Wooldridge optimistisch, was europäische und gerade die Weiterentwicklung des Leistungsprinzips in den deutschsprachigen Ländern betrifft. Mit deren System der beruflichen Bildung, dualen Ausbildung habe man Differenzierung zugelassen, anstatt einfach nur auszusieben. Gerade Länder, die ihre Leistungsgesellschaft nur an akademischen Leitlinien organisierten und anderen, eher anwendungsorientierten Fähigkeiten keine Wertschätzung und Förderung zukommen ließen, seien schlechter vor einer Revolte gegen das Leistungsprinzip geschützt. Die Meritokratie habe die moderne Geschäftswelt geschaffen, die Revolte gegen die Meritokratie drohe sie zu zerstören. (ebd.)
Eine Gefahr besteht heute darin, dass man es mit gutgemeinten Prinzipien von Chancengleichheit und Identitätspolitik übertreibt und gleichwohl beginnt, das Leistungsprinzip in Bildung und Karrierepfaden von Organisationen aufzuweichen. Dennoch kann es sich keine Gesellschaft leisten, bei der Förderung von Chancengleichheit nachzulassen. Gerade für Einwanderungsgesellschaften und bei industriellen Strukturkrisen gilt es, in Bildung und Weiterbildung zu investieren.
Eine der Errungenschaften der modernen Gesellschaft bleibt, dass alle Menschen möglichst gleiche Bildungschancen haben sollen und eine berufliche Laufbahn nicht von guten Beziehungen abhängen muss. Dieses Prinzip einer modernen Gesellschaft ist scheinbar so verankert, dass man es als gegeben voraussetzt.
Auf der anderen Seite kommt das Leistungsprinzip auch von Seiten nepotistischer Eliten unter Druck. In den amerikanischen Eliteuniversitäten studieren überdurchschnittlich viel junge Leute, deren Eltern zu den privilegiertesten des Landes zählen. Die Eltern von einer oder einem von sechs Ivy-League-Studierenden zählen zum oberen einem Prozent der US-Einkommensschicht. Die Zugehörigkeit zu diesen Familien erhöht die Chance auf eine Zulassung an Elite-Universitäten um 34 Prozent. (Chetty/Deming/Friedman 2023)
Und auch in China (und einigen anderen konfuzianisch geprägten Ländern) hängen die Berufschancen der nächsten Generation maßgeblich davon ab, wie man beim nationalen Test von 10 Millionen Studienbewerbern, dem gao kao, abschneidet. Kindern von Eltern mit Wohnsitz in den chinesischen Ballungszentren und mit finanziellen Ressourcen für Nachhilfe haben viel höhere Eintrittschancen als der Nachwuchs aus der ländlichen Provinz Westchinas.
Die Behauptung, in der offenen Gesellschaft setzten sich die Talentiertesten durch, bleibt selbst in Industrieländern vielfach ein uneingelöstes Versprechen. Dazu kommen heute die autoritären Entwicklungen in vormals demokratischen Ländern.
Heutige liberale Gesellschaften stehen vor der Herausforderung, die Kluft zu schließen, wenn sich neue Stratifikationen zu entwickeln drohen - zwischen Elite und Nicht-Elite, zwischen Gewinnern und Verlieren, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen radikaler Identitätspolitik und Leistungsorientierung, zwischen Leuten, die gute Beziehungen haben und denen, die noch keiner kennt.
In einer gerechten Leistungsgesellschaft werden Chancen zum Engpass. Sie kann sich nicht leisten, dass Eliten sich die begehrten Plätze der Elite-Hochschulen zuspielen. In einer gerechten Leistungsgesellschaft putzen wir auch unsere Schuhe selbst. Die funktionale Differenzierung löst in der liberalen Moderne Privilegien auf. Wenn sie wollen, können Leistungsträger in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beim morgendlichen Blick in den Spiegel erkennen, ob sie einer Selbstinszenierung als die Wir-da-oben erlegen sind. Das Gegenmodell - Hauptsache loyal, Qualifikation ist Nebensache. Obwohl in den USA Vetternwirtschaft gesetzlich untersagt ist, bindet Donald Trumps Klüngelwirtschaft nicht nur seine Familienmitglieder mit ein, sie erstreckt sich auch in den Regierungsapparat, zu den Broligarchen, Supreme Court, diplomatischen Dienst oder bis hin zum Krypto-Klüngel. Aber auch schon, wenn Etablierte mit einem Blick nach unten, von den „deplorables“ (Hillary Clinton), von den Bedauernswerten spricht, hat die Prinzipien einer Leistungsgesellschaft nicht verstanden, die immer und überall den Außenseitern eine faire Chance geben muss. Nur Gesellschaften, die massiv in die Bildungsgerechtigkeit investieren, werden sich weiterentwickeln. Wenn sich Leistung lohnen soll, müssen Menschen wie Hong Xiuquan reale Chancen eröffnet werden.
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