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Auszug aus:
Winfried W. Weber, Die Purpose-Wirtschaft. Management als Balance zwischen Gewinn und Gemeinwohl, 2024. eBook (Amazon Kindle, http://tiny.cc/9eznzz )
„Viele Menschen sind nach 30 Jahren in der Wirtschaftswelt gelangweilt oder ausgebrannt. Und sie können in dem Alter wieder Risiken eingehen, weil das Haus abbezahlt und die Rente nah ist. So wie bei mir. Meine vier Kinder sind alle aus der Schule, jetzt möchte ich etwas Nützliches für die Gesellschaft tun. Es ist eine Schande, dass niemand Menschen über 50 ermuntert und hilft, sich noch einmal für einen anderen Beruf ausbilden zu lassen. … Die Arbeit als Lehrerin wird unglaublich hart sein. ... Für Menschen, die Managementgehälter gewohnt sind, ist natürlich auch die Bezahlung abschreckend. Einsteiger wie ich bekommen nicht viel mehr als 20 000 Pfund im Jahr. Einige unserer Bewerber [ihrer Stiftung ‚Now Teach‘] verdienen bisher eine halbe Million. Als ich das mit den 20 000 Pfund einem Interessenten sagte, fragte der: Ist das pro Monat?“
Lucy Kellaway, frühere leitende Wirtschaftsredakteurin der Financial Times und Mitbegründerin der Stiftung „Now Teach“ (Kellaway 2017)
Bildung braucht Innovation und Entrepreneurship. Das hat Tradition. Sokrates, Pestalozzi, Humboldt, Fröbel, Grundtvig, Dewey, Steinbeis, Baden-Powell, Piaget, Montessori, Korczak, Freinet, Miller, Illich und viele andere Entrepreneure schufen und schaffen eine Bildung zur Freiheit und die Grundlage dafür, dass Individuen den Purpose ihres Lebens finden und verwirklichen können.
Sokrates Mutter war eine Hebamme, eine maia. Sein dialogisches Vorgehen, die Maieutik, hilft Menschen durch kluges Fragen, Erklärungen für Phänomene selbst herauszufinden. Johann Pestalozzis Elementarbildung zur Stärkung des Menschen und Entwicklung der Selbständigkeit. Wilhelm von Humboldts Königsberger Schulplan als dreistufiges Bildungssystem mit Elementar-, Schul- und Universitätsbereich. Friederich Fröbels Entdeckung der Bedeutung der frühen Kindheit. Nikolai Grundtvigs Förderung des lebenslangen Lernens. John Deweys Demokratiebildung und Lernen mit Projekten und Learning by doing. Ferdinand von Steinbeis‘ Entwicklung einer dualen Ausbildung und der Begründung von Gewerbeschulen. Robert Baden-Powell mit den Pfadfindern, ihrem Schneeballsystem und der Selbstorganisation, die „funktioniert, wenn man sie zulässt“. Jean Piagets Fokus auf Nachahmung beim Lernen. Montessoris Förderung konzentrierter Aufmerksamkeit und die „vorbereitende Umgebung“. Janusz Korczaks „humorvolle Pädagogik“ und Selbstverwaltung in der Kinderrepublik, in der Kinder lernen, Demokratie und Zusammenleben praktisch einzuüben. Célestin Freinets strukturelle Innovationen für Schulen, sie von innen zu ändern, den Teamgeist der Lehrkräfte zu aktivieren und Lernkooperativen zu schaffen, indem Menschen gemeinsam den Lernprozess gestalten. Alice Millers Kritik einer schwarzen Pädagogik, in der Kinder als Untertanen angesehen werden und als Marionetten von Machthabern manipuliert werden können. Ivan Illichs radikales Plädoyer für De-Schooling, den Hausunterricht, den zum Beispiel in den USA derzeit über drei Prozent der Schüler praktizieren. Eine unübersehbare Vielfalt.
Der Ausdifferenzierung zu Innovationen des Lernens sind heute keine Grenzen gesetzt. Dutzende, Hunderte oder Tausende von Entrepreneuren in Start-ups, Stiftungen und im Ehrenamt setzen sich nicht nur in jedem OECD-Land, sondern auch im globalen Süden mit Bildungsinnovationen auseinander. Entrepreneure entwickeln Konzepte für neue Strukturen in Verwaltung und Lernorganisationen, arbeiten an Methoden, motivationalen Fragen, an Grenzüberschreitungen, in der Lernende zu Lehrenden werden und so weiter.
Eine Dynamik im Bildungsbereich einer Gesellschaft hängt maßgeblich davon ab, ob ein Ökosystem für gesellschaftliche Innovationen entsteht, in dem gerade auch unternehmerische Ansätze die öffentlichen Institutionen unterstützen, ergänzen und bisweilen auch irritieren. Bildung als System braucht Offenheit, Autonomie und Freiräume für Selbstorganisation. Öffentliche Bildung braucht aber auch von Seiten der Politik richtige Anreize für Organisationen, Lehrkräfte und Start-ups und im Bildungsmanagement einen Fokus auf motivationale Fragen oder genauer gesagt, eine höhere Sensibilität für Demotivation. Zu oft wird im öffentlichen Bildungsbereich so geführt, dass Lehrende und Lernende demotiviert werden.
Warum spendete Jeff Bezos, der Amazon-Gründer eine Milliarde Dollar für Montessori-Kindergärten?
„Der Multi-Milliardär besuchte als Kind selbst eine Montessori-Vorschule und, nach den Erzählungen seiner Mutter, versenkte sich Jeff gern so tief in eine Aufgabe, dass niemand ihn davon abbringen konnte. Maria Montessori spricht hier von der ‚Polarisation der Aufmerksamkeit‘ und sieht in dieser Vertiefung eine elementare Lern- und Seins-Erfahrung des Kindes, die für seine Entwicklung einen unschätzbaren Wert darstellt. Im völligen Aufgehen in einer Tätigkeit sind Kind und Welt nicht mehr voneinander getrennt, sondern zu einer fruchtbaren Einheit geworden. Bezos selbst sagt viele Jahre später, dass er seinen Erfolg genau dieser Fokussierung und diesem Forschergeist verdankt, den er an der Montessori-Schule so frei entwickeln durfte.“ (Laschitz o.J.)
Jeff Bezos, Larry Page, Sergey Brin, Bill Gates, Mark Zuckerberg, Will Wright, Beyonce, Taylor Swift und Jahrzehnte früher Alexander Graham Bell, Erik Erikson und Peter Drucker haben etwas gemeinsam. Entweder besuchten sie eine Montessori-Einrichtung und durften mit unkonventionellen Lernerfahrungen ihr Leben beginnen, oder sie waren selbst Montessori-Lehrer. Nicht nur Bezos, auch früher Bell, der maßgeblich das US-amerikanische Telefonnetz aufbaute, förderte ab 1913 als Mäzen die Montessori-Bewegung.
Peter Drucker gibt einen entscheidenden Hinweis, wie und wo Entrepreneurship im Bildungsbereich einen Unterschied machen könnte:
„For thousands of years people have been talking about improving teaching - to no avail. It was not until the early years of this century, however, that an educator asked, “What is the end product?” Then the answer was obvious: It is not teaching. It is, of course, learning. And then the same educator, the great Italian doctor and teacher Maria Montessori (1870-1952), began to apply systematic analysis of the work and systematic integration of the parts into a process.” (Drucker 1973)
Peter Druckers Tante, Eugenie Schwarzwald (1872-1940), gründete in Wien die Schwarzwaldschule, mit den Prinzipien von Gewaltfreiheit, Förderung der Phantasie und Gestaltungskraft und der freien Entfaltung jedes Kindes. Sie tauschte sich regelmäßig mit Maria Montessori (1870-1952) aus, die parallel, zu Beginn des 20. Jahrhunderts anfing, reformpädagogische Methoden zu entwickeln. Über seine Volksschulzeit in der Schwarzwaldschule schrieb Drucker: "it was [...] superior to anything the Gymnasium tried to teach me." (Drucker 1989)
Erstaunlich viele Entrepreneure und Führungskräfte haben in ihrer Laufbahn eine große Affinität zum Lehrerberuf entwickelt und sich mit Innovationen des Lernens beschäftigt. Die Praxis der Führung von Organisationen hat viele Parallelen zu den Aufgaben in der Schule. In der Wissensgesellschaft kommt es darauf an, dass Menschen eigenverantwortlich lernen und teamorientiert arbeiten können und in der Lage sind, mit anderen zu kommunizieren und anderen Menschen zu erklären, was ihr Wissen, ihre Kompetenz ausmacht. Wer keine kommunikativen Anschlüsse findet, erzeugt keine Innovation und bringt Wissen nicht zur Anwendung.
Im Wissenszeitalter sind für Bildungsinstitutionen Innovation und Komplexität die zwei Seiten einer Medaille im Prozess ihrer Erneuerung. Innovation entsteht auch im Bildungsbereich durch Öffnung. Gerade Schulen sind in vielen Ländern an einem Punkt angelangt, an dem inkrementelle, also lineare Schritt-für-Schritt-Verbesserungen und Reduktionsversuche von Komplexität an ihre Grenzen stoßen. Die Schule leidet allerorten an einer gesellschaftlichen Überforderung. Change Manager treffen hier selbst bei kleinen Veränderungen auf ein nicht reformwilliges oder reformfähiges System innerhalb der Schule, ihren Verwaltungen und Aufsichtsbehörden und außerhalb, bei den unzähligen Interessengruppen des Bildungssystems. Auch in Deutschland benötigt die Schule, ein seit einhundertfünfzig Jahren etabliertes und inzwischen überreguliertes System, einen disruptiven Wandel.
Eine radikale Erneuerung kann mit drei Hebeln gelingen. Die erste, wichtigste Veränderung besteht in der Bereitstellung von Autonomie. Von den hierzulande knapp 30.000 allgemeinbildenden Schulen bräuchte es eine kritische Masse von einigen hundert Schulen, mit einem Querschnitt aller Schulformen, die bereit wären, sich mit einer unternehmerischen Herangehensweise zu erneuern. Unternehmerisch heißt, dass eine Schule die Freiheit und Autonomie bekommt, Innovationen eigenständig umsetzen zu können, die bereits heute in den abertausenden Köpfen und in den Schubladen der Lehrkräfte vorhanden sind. Bei Change-Projekten agieren diese Schulen autonom, frei von den Schulaufsichtsbehörden und mit erweiterten Spielräumen bei den Lehrplänen. Jede Schule bekommt ein eigenes Budget. Schulen erhalten mittelfristig eine neue Rechtsform (zum Beispiel jeweils als Einzel-Stiftungen der Länder), die Möglichkeit, die Mitglieder und Partner ihrer Organisation selbst auszuwählen und eine eigene Satzung mit den Zielen und den spezifischen Ergebnissen, die sie in ihren vielfältigen Sozialräumen (von sozialen Brennpunkten bis bürgerlichen Quartieren) erreichen wollen. Regelmäßig werden die Lernergebnisse der Modellschulen evaluiert unter der Berücksichtigung der sozialen Ausgangslage und Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.
Eine Modellschul-Initiative könnte durch die Länder oder durch die Bundesregierung gestartet werden und über ein Bewerbungsverfahren, in dem Schulteams ihre Innovationsideen und Kompetenzen aufschlüsseln, über die Länder in Gang kommen. Der Bund würde zum Anschub zunächst erhebliche zusätzliche finanzielle Mittel bereitstellen, die langfristig durch eine Verschlankung der Bürokratie auf Landesebene ersetzt werden könnten. Aus gesellschaftlichen Bereichen wie der Pflege liegen aus anderen Ländern Erkenntnisse vor, dass Pflege-Start-ups mit ihren schlanken Strukturen mit etwa einem Drittel von Verwaltungs- und Managementkosten auskommen (siehe Kapitel „Nurse Entrepreneurship“). Das würde bedeuten, dass langfristig hierzulande jährlich ein ein- bis zweistelliger Milliardenbetrag für ein flach-hierarchisches Schulsystem freiwerden könnte, wenn Schulen lernen, sich selbst zu verwalten und zu erneuern. Auf Bundes- und oder Länderebene würde eine Intranet-Plattform für Beratungsprojekte der etwa 1.500 Modellschulen aufgebaut werden, die zunächst diesem Kreis mit aktiver Beteiligung zur Verfügung steht. Diese Schulen wären dann lernende Organisationen und lernende Systeme. Bestehende Kommunikationsbarrieren würden durch die alltägliche, interne Vernetzung der Modellschulen aufgelöst.
Bislang versucht das Bildungssystem in vielen OECD-Ländern die gesellschaftliche Komplexität meist durch eine wachsende Bürokratie und immer detailliertere Regulierungen mit verteilten Zuständigkeiten und dadurch oft unklaren Verfahren und Prozessen in den Griff zu bekommen (in Deutschlands Schulen administrieren die Länder die Lehrkräfte, die Kommunen die Sekretariate und die Haustechnik, die Jugendämter oder der Landkreis die Schulsozialarbeit und die Jugendämter die Erzieher der Gesamtschulen). Auch bildungspolitische Debatten und Gesetzesinitiativen führen auf den unteren Ebenen des Schulsystems, bei den Lehrkräften, immer wieder zu Demotivierung, Fatalismus und beruflicher Neuorientierung. Die Zufriedenheit mit den Arbeits- und Ausbildungsbedingungen verschlechtert sich. Darüber hinaus führt ein unprofessionelles Ad-hoc-Krisenmanagement der oberen Schulbehörden angesichts gesellschaftlicher Großkrisen wie Flüchtlingskrisen, Pandemie, Inklusion oder Fachkräftemangel zur Lähmung auf den unteren Ebenen. Mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung für die Lehrkräfte, die man vielfach in die Rolle der Feuerwehrleute gesellschaftlicher Brandherde und aus Sicht eines Job-Designs einer professionellen Personalführung defacto in Killer-Jobs gedrängt hat, tun ihr Übriges. Man denke hier nur an die völlig missratene sommerliche Plakat-Aktion des Kultusministeriums Baden-Württemberg in der Ankunftshalle des Stuttgarter Flughafens mit dem Großschrift-Text: „Gelandet und gar keinen Bock auf Arbeit morgen? Hurra! Mach was Dir Spaß macht und werde Lehrer*in“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg 2023). Manche Studierende berichten von Arbeitsbedingungen insbesondere in Schulen sozialer Brennpunkte, die unter den gegenwärtigen Bedingungen niemand, auch mit größter intrinsischer Motivation und Resilienz ausgestattet, länger bewältigen kann. Als Folge brechen mehr Referendare ihre Ausbildung ab, andere schließen ihre Ausbildung zwar ab, kündigen aber kurz darauf, selbst beim Verlust des Beamtenstatus, wenn sie beim Berufsstart in ausgezehrten Schulen landen, die organisatorisch eher Hackordnungen gleichen und in denen die Novizen die schwierigsten Klassen übernehmen müssen. Viele der etablierten Lehrkräfte reduzieren ihre Arbeitszeit, gehen in den Vorruhestand oder erkranken und verlieren ihre Arbeitsfähigkeit. Die Gefahr, an einem Burn-out zu erkranken, steigt massiv. Der gegenwärtige Lehrermangel ist kein Planungsfehler eines falsch kalkulierten Personal-Recruiting oberer Verwaltungsebenen mehr, sondern Beleg einer systemischen Krise.
Die zweite wichtige Veränderung betrifft den Prozess des Entscheidens in der Organisation, die autonomer geworden ist. In ihr stellt sich die Frage, wer Entscheidungen trifft, wie sie zustande kommen, ob Entscheidungsprozesse auf Traditionen und wenn ja, auf welchen beruhen sollen. Bildungsinnovationen entstehen dann maßgeblich auch durch Intrapreneure einer Bildungsinstitution, die in Change-Projekten innovative Modelle konzipiert, umsetzt und evaluiert. Auch die Selbstreflektion, welche Möglichkeiten man schafft, um Entscheidungsmuster zu reflektieren und rückgängig zu machen. So können alle Mitglieder der Organisation Einfluss auf Entscheidungen nehmen und Gehör finden. Auch die Beteilung der Lernenden und weiteren Stakeholdern der Organisation schafft Innovationen. Hier kommen auch Entrepreneure ins Spiel, die mit sozialen und pädagogischen Start-ups aufzeigen, wie Lerninnovationen möglich sind, die außerhalb etablierter Bildungsinstitutionen entwickelt und umgesetzt werden.
Als Folge der ersten beiden Veränderungen durch Autonomie und geteilter Entscheidungsformen werden an Schulen und ihren Teams neue Arten von Konflikten entstehen, die professionell begleitet werden müssen, um handlungsfähig bleiben zu können. Für flach-hierarchische und Organisationen, die dezentrale Entscheidungen zulassen und Selbstorganisationsformen einführen, sind Teamkonflikte gerade in der Übergangsphase Alltag. Umso mehr benötigen Teams dann Coaching, Supervision und Beratung, um aus Konflikten produktive Lösungen zu generieren (siehe Kapitel „Der Quellcode“).
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Größe der Teams und der Organisation. Zum Beispiel arbeitet das Industrieunternehmen Gore-Tex mit über 10.000 Mitarbeitern weltweit seit über 60 Jahren mit flachen Hierarchien, verzichtet weitgehend auf starre Kontrollmechanismen und begrenzt die Anzahl der Belegschaft in den getrennt agierenden Unternehmenseinheiten, die aus gleichberechtigten „Associates“ bestehen. Der Gründer Bill Gore führte schon zu Beginn des Unternehmens das Prinzip ein, dass kein Werk von Gore größer als 150 Personen bzw. 200 im Schichtbetrieb sein sollte. Anstelle von Vorgaben gibt es Vereinbarungen unter den Associates. Sogenannte „Leaders“ werden bei Gore vom Team auf Zeit oder die Dauer eines Projektes gewählt, die nach Abschluss der Aufgabe wieder in die Rolle der Associates zurückkehren.
Auch Hochschulen organisieren sich traditionell nach dem Prinzip dezentraler Fakultäten und kollegialer Selbstorganisation. Sie erhöhen dadurch die Partizipation, aber auch den Kommunikationsaufwand der Lehrenden, was gerade aber bei Wissensorganisationen unabdingbar ist, um den „State-of-the-art“ aufrechtzuerhalten und der nicht top-down durch Hierarchien (das Rektorat) gesteuert werden sollte.
Letztlich lassen sich bei vielen innovativen Modellen in der aktuellen Management- und Organisationspraxis und -debatte Bezüge zu den historischen reformpädagogischen Ansätzen herstellen. Die innovative Schule kann sich dabei die Wurzeln ihrer Vordenkerinnen und Vordenker von Sokrates bis Montessori besinnen.
Darüber hinaus gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Innovationen in der Schulbildung, in der Organisationspraxis und im Management sich gegenseitig beeinflussen. Die historische Reformpädagogik und engagierte Lehrerpersönlichkeiten haben gerade auch Managementinnovatorinnen oder die Begründer innovativer Organisationsmodelle beeinflusst. Die Sozialarbeiterin Mary Parker Follett gilt in Nordamerika als die „Mutter des modernen Managements (vgl. Kapitel „Der Quellcode“). Das Start-up Teach First wurde in den USA entwickelt, um den Horizont von Studierenden der Ivy-League und Elite-Hochschulen in einem sozialen Jahr mit der schulischen Wirklichkeit an sozialen Brennpunkten des Landes und Fragen der Chancengleichheit zu erweitern. Auch spätere Quereinsteiger mit Karrieren in der Wirtschaftswelt wie Lucy Kellaway (siehe oben) zählen dazu.
Der dritte Veränderungsschwerpunkt betrifft die Zukunftsfähigkeit und die Fähigkeit, mit einer unerwarteten und unbekannten Zukunft umzugehen, also sich die Frage zu stellen, was von dem, was wir jetzt tun, wird auch morgen noch relevant sein? Für eine wachsende Zahl von Lehrerinnen und Lehrern ist das nichts Neues und bereits Alltagsgeschäft beim Sichdurchwursteln unter zunehmend erschwerten Rahmenbedingungen. Neu an dieser Herausforderung ist, dass die Lehrinnovationen nicht mehr von Einzelkämpfern oder kleinen Teams vollzogen werden, sondern in der gesamten Organisation, die sich als lernende Organisation versteht, in zirkulären Schleifen und im Austausch mit Start-ups im Bildungsbereich erneuert werden.
Neu ist auch, dass im Komplexitätszeitalter Zukunftsfähigkeit immer stärker von der Einbettung der Schule in Netzwerken abhängt. Wenn es früher „ein ganzes Dorf brauchte, um ein Kind zu erziehen und zu bilden“, so erweitern Schulen gerade in Netzwerken mit externen Entrepreneuren ihre Handlungsmöglichkeiten.
Die dritte Herausforderung wird also, um es mit der Organisationsphilosophie zusammenzufassen, „die Komplexität durch Öffnung bewältigen“. Um es mit Peter Druckers Worten auszudrücken - ersetzen wir hier “Business” mit “heutiger Schulform: "If you weren't already in this business, would you enter it today? And if not, what are you going to do about it?" (so Peter Druckers berühmte Frage an den CEO von General Electric Jack Welch, zitiert nach Flanigan/Mulligan 2005). Wer Schule öffnet, schaut sich nach erfolgreichem Lernen anderswo um: wo findet überraschendes und beiläufiges Lernen statt, hierzulande und anderswo, wie ermutigt man Lernende zu Lehrenden zu werden, wie ermutigt man Lehrende zu Lernenden (zum Beispiel in Lerngruppen) zu werden? Und vor allem, wie vernetzt sich die öffentliche Bildungsinstitution mit den Entrepreneuren, die Innovationen in das Lernen bringen? Wer sich von der Vielfalt der Bildungs-Start-ups und innovativer Netzwerke hierzulande und anderswo inspirieren lassen möchte, schaue nach bei internationalen Netzwerkhubs wie Ashoka, Skoll Foundation, Tata Social Enterprise Challenge, ANSES African Network of Social Entrepreneurship Scholars, ESG & Social Innovation bei der Cheung Kong Graduate School of Business, LATAM/Latin American Entrepreneurs sowie inzwischen auch zahlreichen Netzwerken auf regionaler Ebene.
Eines der innovationsaffinsten Länder im Bildungsbereich ist dabei Dänemark, das weit über dem OECD-Durchschnitt liegende 6,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für öffentliche Bildung ausgibt (OECD 2022). Seit 2012 entwickelt Dänemark eine nationale Innovationspolitik, in der das Bildungssystem eine zentrale Rolle spielt. “Education is to increase the innovation capacity: A change of culture in the educational system focusing more on innovation” (Danish Government 2012). Im dänischen Berufsbildungsprogramm (VET) werden im ersten Teil der Grundausbildung (grundforløb 1) die Schüler mit dem Lernfeld Innovation unterrichtet. Im Berufsbildungsfach Innovation entwickeln die Schüler Kompetenzen, um durch praktisches Problemlösen in innovatives Denken und Handeln einzuführen.
In Dänemark ist Innovation dabei sehr eng mit Entrepreneurship verbunden. In der nationalen Strategie für Bildung und Ausbildung im Bereich Unternehmertum aus dem Jahr 2010 wird Unternehmertum unter dem Aspekt des formalen als auch des nicht-formalen Lernens zum Bestandteil einer öffentlichen Bildung. Beim nicht-formalen Lernen gibt es dabei kein zentrales Förderprogramm, sondern Finanzierungstöpfe (Gewinne aus der nationalen Lotterie und Fußballtöpfen/Udlodningsmidlerne), die Innovationen in Jugendverbänden unterstützen können, die vom dänischen Jugendrat verwaltet werden. Darüber hinaus unterstützt das Kulturministerium Bildungseinrichtungen im Bereich des nicht-formalen Lernens, zum Beispiel die Volkshochschulen (højskoler, die ja wie eingangs erwähnt auf Grundtvig zurückgehen) und Bildungseinrichtungen, die Innovationsprojekte initiieren können.
Eine raffinierte Form, Anreize für Bildungsinnovationen an Hochschulen zu schaffen, bildet die Erhebung von Kennzahlen. Dänische Hochschulen sind seit 2012 verpflichtet (sic!), dem Kultusministerium zu melden, wie viel Prozent der Studierenden aller Fachbereiche an Seminaren mit den Themen Innovation und Entrepreneurship teilgenommen haben. Während anfangs der Prozentsatz bei unter zehn Prozent lag, „impfen“ heute einige dänische Hochschulen über sechzig Prozent ihrer Studierenden durch Innovationsworkshops. Hochschulkonzepte unterscheiden dabei zwischen incubation und acceleration, zwischen Brut- und Beschleunigungs-Phasen des unternehmerischen Lernens und Entwicklung von Prototypen (siehe auch European Commission 2023).
Wer Schulen und Hochschulen öffnet, ist bereit, sich auch von seinen Lernenden überraschen zu lassen. Die Neigung von Lehrenden, normierende Wege des Lernens als Standard zu setzen und diese in routinierten Prozessen zu wiederholen, ist im Komplexitätszeitalter nicht mehr zeitgemäß. Eine innovative Bildungsinstitution, ob Schulen im Primär- oder Sekundärbereich, Berufsschulen, Hochschulen oder die Erwachsenen- und Weiterbildung, lässt zu, dass sie sich öffnet und es viele Wege zum Lernerfolg gibt, auch durch Entrepreneure.
Celestine Freinet, der Begründer der Freinet-Pädagogik, hat einmal seine pädagogischen Erfahrungen mit diesem Bild zusammengefasst:
„Der Pädagoge hatte seine Methode aufs Genaueste ausgearbeitet. Er hatte, so sagte er, ganz wissenschaftlich die Treppe gebaut, die zu den verschiedenen Etagen des Wissens führt; mit vielen Versuchen hatte er die Höhe der Stufen ermittelt, um sie der normalen Leistungsfähigkeit kindlicher Beine anzupassen; da und dort hatte er einen Treppenabsatz zum Atemholen eingebaut, und an einem bequemen Geländer konnten die Anfänger sich festhalten. … Nur diejenigen, die von der Schule schon genügend autoritär geprägt waren, stiegen methodisch Stufe für Stufe, sich am Geländer festhaltend, auf dem Absatz verschnaufend, weiter die Treppe hoch. ... Aber kaum war er [der Pädagoge] für einen Augenblick nicht da: Sofort herrschten Chaos und Katastrophe! ...
Die Kinderhorde besann sich auf ihre Instinkte und fand ihre Bedürfnisse wieder: Eines bezwang die Treppe genial auf allen Vieren; ein anderes nahm mit Schwung zwei Stufen auf einmal und ließ die Absätze aus; es gab sogar welche, die versuchten, rückwärts die Treppe hinaufzusteigen und die es darin wirklich zu einer gewissen Meisterschaft brachten. Die meisten aber fanden - und das ist ein nicht zu fassendes Paradoxon, dass die Treppe ihnen zu wenig Abenteuer und Reize bot. Sie rasten um das Haus, kletterten die Regenrinne hoch, stiegen über die Balustraden und erreichten das Dach in einer Rekordzeit, besser und schneller als über die so genannte methodische Treppe; einmal oben angelangt, rutschten sie das Treppengeländer runter.“
Célestine Freinet, Die Lebensweisheiten des Schäfers Mathieu – Les dits de Mathieu
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